Das Living History Projekt: Grifenstain 1270

Ich Cůno der ritter von Grifenstain kunde und vergihe offenliche allen den die disen brief ansahent oder horent lesen, daz ich mit miner elichen wirtinne und aller miner kinde wissende willen und gemainem gunst han vercoufet […] Cůnrat dem Maier ainem burger von Rutlingen […] umbe zehendehalp phunt Haller […] lute […] mit allem dem rehte als sui an mich braht sint.


…so berichtet eine Urkunde vom 13. Januar des Jahres 1300 über die Ereignisse, die sich innerhalb der Mauern der aufstrebenden Reichsstadt Reutlingen zutrugen. Der Ritter Kuno von Grifenstain hatte damals, mit dem Einverständnis seiner Gemahlin und seiner Kinder, mehrere ihm gehörende Eigenleute, d.h. Leibeigene an einen Reutlinger Bürger verkauft.


Immer wieder werfen solche historischen Quellen ein Schlaglicht auf die Familie der Herren von Greifenstein, die auf ihren Burgen hoch über dem Echaztal saßen. Doch wie sah deren Alltag aus, welche alltägliche Ausstattung, welche Sachkultur prägte diese Zeit?

Dis beschach und wart der brief gegeben ze Rütlingen in Gangelmannes huse, do man von gottes geburte zalte zwelf hundert jare und in dem trizehenden hunderta jare an sant Glarins tag […]

Burg und Herrschaft Greifenstein

Unter der mittelhochdeutschen Bezeichnung „Grifenstain“ oder auch „Grifenstein“, die Schreibweisen variieren, erscheinen die gleichnamige Burg und die Herrschaft Greifenstein, die im Hoch- und Spätmittelalter am Nordrand der Schwäbischen Alb nahe des Dorfs Holzelfingen, unweit der Stadt Reutlingen lagen, mehrfach in der zeitgenössischen Überlieferung. Die dem edelfreien Stand zuzurechnende Adelsfamilie der Greifensteiner, die in ihrem Wappen einen schwarzen Greifen auf goldenem Grund führte, hatte sich vom späten 12. bis in das 14. Jahrhundert hinein eine ausgedehnte und offenbar gut ausgebaute Herrschaftsstruktur im oberen Echaztal geschaffen. Von ihren Burgen aus kontrollierten sie die Albaufstiege, über die nicht selten die Kaufmannszüge der Reutlinger Bürger zogen. Zu ihren Lehensleuten gehörte 1283 der Ministeriale Heinrich Rempe aus Pfullingen, ansässig auf der dortigen Rempenburg, ebenso wohl auch der 1280 genannte Ritter Heinricus de Holcelvingen und wahrscheinlich genauso die nicht weit entfernt auf ihrer gleichnamigen Burg ansässigen Herren von Stahleck. Wohl dem engsten Dienstmannenkreis zuzuordnen sind zwei in der Gütergeschichte des Klosters Weißenau in der Zeit vor 1220 erwähnten Ritter Konrad und Eberhard mit dem Beinamen Krebize, die ausdrücklich als Teil der Greifensteiner familia bezeichnet werden.

Handwerker, Bauern und Burgmannen

Ob diese beiden damals wohl nicht über einen eigenen Burgsitz verfügenden Ritter als Burgmannen unmittelbar auf einer der Greifensteiner Burgen ansässig waren, lässt sich nur vermuten. Sicher ist aber, dass die Herren von Greifenstein auf ihren beiden Stammsitzen Oberer- und Unterer Greifenstein sowie wohl auch auf der nahen Burganlage Hochbiedeck über einen Kreis ritterlicher Dienstmannen sowie einfacher nicht-adeliger Gefolgsleute verfügten. Unter diesen Burgbewohnern fanden sich im späten 13. Jahrhundert neben Rittern und adeligen Damen zahlreiche Knechte, Mägde und weitere Bedienstete. Auch gab es einfache Soldaten, sogenannte Kriegsknechte, die ihrem Herrn Burghutdienste leisteten, ihm im Falle kriegerischer Fehden aber auch in den Kampf folgten – so geschehen etwa 1311 im Konflikt mit der Reichsstadt Reutlingen oder 1331 während kämpferischer Auseinandersetzungen mit dem nahen Kloster Pfullingen. Auch Handwerker und andere Lehensleute lebten und arbeiteten auf der Burg oder in der nahen Stadt sowie den umgebenden Siedlungen, darunter etwa Schmiede, Schuhmacher, Sarwürker, Textilhandwerker, Schneider oder Färber. So hatte etwa der Ritter Albrecht von Grifenstain im Jahr 1332 nachweislich Lehensrechte über den damals bereits verstorbenen Reutlinger Schmied Berthold und dessen Kinder inne. In den ländlich geprägten Dörfern gingen Bauern und Viehhirten ihrem Handwerk nach, im Tal betrieben Müller die an der Echaz gelegenen herrschaftlichen Mühlen. Obgleich in den historischen Quellen zumeist nur sporadisch genannt, finden sich die materiellen Hinterlassenschaften dieser Personengruppen heute im Rahmen archäologischer Ausgrabungen teilweise wieder. Sie ermöglichen damit ganz unmittelbare Einblicke in den mittelalterlichen Alltag und die darin zur Verwendung kommende Ausstattung beziehungsweise Sachkultur.

Griffenstein min Burgstal, daß ob Ruetlingen lit […] und alles das dar zu° gehoert Luet und Gu°te, und alles daß ich ze husen in dem dorf und in dem tal ze husen han, […] und alles daß ich ze horzolfing, und uf der albe her gen Urach hie diszu Muensing han. An Lueten und Gu°ten, an holz an velde, an ekkern an wisen, an wazzen an waiden[…]

„Lebendige Geschichte“

Das Living-History-Projekt „Grifenstain 1270“ knüpft an dieser Stelle an und bietet fachlich fundierte Einblicke in das Alltagsleben und die Sachkultur des ausgehenden Hochmittelalters bzw. der Zeit um die Wende zum Spätmittelalter. Auf Basis zeitgenössischer Quellen, die überlieferungsbedingt naturgemäß weit über das Arbeitsgebiet hinausreichen und allgemein ein breites Spektrum der schriftlichen, bildlichen und archäologischen Überlieferung sowie der plastischen Kunst und der Realienkunde umfassen, werden Kleidung, Alltagsgegenstände und Kriegsausrüstung des späten 13. Jahrhunderts detailgereu rekonstruiert und auf verschiedenen Veranstaltungen einem interessierten Publikum präsentiert und erläutert. Im Sommer 2019 – vor dem Hintergrund erster vorbereitender Schritte des Greifenstein-Projekts gegründet – folgte dieses Living-History-Projekt von Beginn an auch dem Ziel, die im Echaztal voranschreitenden wissenschaftlichen Forschungen in anschaulicher und lebendiger Weise einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren und damit den vielschichtig konzipierten Vermittlungsansatz des Greifenstein-Projekts um eine spannende Facette zu erweitern. Die Früchte dieser Zusammenarbeit zeigten sich erstmals 2022, als man die Dreharbeiten zum Stahleck-Dokumentarfilm unterstützen konnte, oder auch im Juni 2023 mit einem „Greifensteiner Living-History-Lager“ anlässlich des 50jährigen Jubiläums des Landkreises Reutlingen. Dieses ergänzte am „Tag der Kreisgeschichte“ die aus einem wissenschaftlichen Fachvortrag und einem Projekt-Infostand bestehenden Aktivitäten des Greifenstein-Projekts um einen dritten öffentlichkeitswirksamen Programmpunkt. Die Verbesserung und Fortentwicklung der gezeigten Ausrüstung ist hierbei naturgemäß nie abgeschlossen und stets ein laufender, vorwärts gerichteter Prozess…


Im Sommer 2024 steht das mittelalterliche Alltagsleben im Echaztal erstmals im Rahmen einer „eigenen“ Veranstaltung im Fokus, in dessen Rahmen neben dem Projekt Grifenstain 1270 zahlreiche ausgewählte Living-History Gruppen von Nah und Fern anreisen und im Pfullinger Schlösslespark hochwertige, wissenschaftliche fundierte Einblicke in eine lebendige Vergangenheit bieten.

Weitere Bilder zum Living-History-Projekt Grifenstain 1270 gibt’s hier, hier oder hier:


Mail: kontakt@grifenstain-1270.de

Presse:
https://www.schwaebische.de/regional/biberach/bad-buchau/mittelalter-zum-anfassen-112860
https://www.tagblatt.de/Nachrichten/Reise-in-die-Vergangenheit-587383.html
https://www.gea.de/reutlingen_artikel,-50-geburtstag-des-kreis-reutlingen-geschmack-an-geschichte-gefunden-_arid,6769889.html

Living History – Lebendige Geschichte

Unter „Living History“ – zu deutsch „Lebendige Geschichte“ – versteht man eine Form der Geschichtsdarstellung, die darauf abzielt, vergangene Epochen zum Leben zu erwecken und in gewisser Weise für alle Sinne erlebbar zu machen. Es wird thematisiert, wie die Menschen in früheren Jahrhunderten lebten und arbeiteten.


Das Konzept der Living History ist in den USA seit den 1930er Jahren als Bestandteil der museumspädagogischen Praxis entstanden. Wichtige Grundlage ist der wissenschaftliche Anspruch, der diese Form der Geschichtsdarstellung von zahlreichen historisierenden Festen und auch den vielen sogenannten „Mittelaltermärkten“, die oft ein fantasievolles, zumeist aber wenig historisches Bild zeigen, deutlich unterscheidet. Living History ist ungleich komplexer, denn nur mit intensiver, wissenschaftlich ausgerichteter Quellenarbeit und Literaturrecherche kann ein möglichst originalgetreues Bild der Vergangenheit gezeigt werden. So findet Living History zumeist auch im Rahmen musealer Veranstaltungen statt und erhebt einen höheren Anspruch als viele oft auf Unterhaltung ausgerichtete kommerzielle Veranstaltungen. Im Mittelpunkt steht hierbei die fundierte Vermittlung vergangener Lebenswelten und oftmals auch eine deutliche Korrektur fest etablierter Klischees.

Wie lebte man zu einer bestimmten Zeit? Wie kleidete man sich, was aß, trank und kochte man? Wie schütze man sich vor Kälte und Regen und wie gestaltete man Freizeit und Fest? Wie wohnte und schlief man? Welche Artefakte und historische Quellen berichten uns hiervon?


Die Rekonstruktion vergangener Alltagskultur beruht oftmals auf einer Zusammenschau verschiedenster Quellen. Neben archäologischen Funden und schriftlichen Überlieferungen finden hierbei auch zeitgenössische bildliche Darstellungen Verwendung sowie Skulpturen der plastischen Kunst. Bis ins späte Mittelalter erweist sich die verfügbare Quellenlage hierzu aber oftmals als dünn — und so gilt es nicht selten in akribischer Recherchearbeit zahlreiche Puzzlestücke zu sichten und zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenzutragen.


Trotzdem bleibt all dies immer nur eine Annäherung an eine vergangene historische Realität, deren Details wir als moderne Menschen nur bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen und rekonstruieren können.